TEXTAUSZUG 1 2
MIT KRÜCKEN FLIEGEN...

Zäh sind sie, diese liebenswerten Typen. Und sen­sibel.

Ich nahm ein Steinchen aus meiner Tasche und lutschte daran. Es war ganz glatt von meinem Lutschen und vom Herumrollen in stürmischer See. Ein kleines, rundes, glattes Steinchen im Mund - das beruhigt, erfrischt, vertreibt den Hunger und täuscht über den Durst hinweg.


»Durchsichtige Kaskade aus Geigentönen. Im pizzi­cato. Sicher vorgetragen.«


So wie Malone die kleinen Dinge liebt - die er findet, mit denen er redet und sogar einschläft, die er beruhigt und, wenn neue Lieben sie ablösen, lange nach einem Ort sucht, wo sie für immer in Frieden ruhen könnten, sie manchmal sogar beerdigt -, so liebt und verehrt Beckett die Körper seiner de­for­mierten Helden. Ihnen widmet er einen Großteil seiner Aufmerksamkeit. Und doch bleiben ihre Be­we­gungen meist unerklärlich. Sie geschehen aus irgendeinem dunklen Grund:

Watts Gewohnheit, geradenwegs, zum Beispiel, nach Osten zu gehen, bestand darin, daß er seinen Oberkörper so weit wie möglich nach Norden drehte und gleichzeitig sein rechtes Bein so weit wie möglich nach Süden schleuderte, dann seinen Ober­kör­per so weit wie möglich nach Süden drehte und gleichzeitig sein linkes Bein so weit wie möglich nach Norden schleuderte, dann wieder seinen Ober­körper so weit wie möglich nach Norden drehte und sein rechtes Bein so weit wie möglich nach Süden schleu­derte, dann wieder seinen Ober­kör­per so weit wie möglich nach Süden drehte und sein linkes Bein so weit wie möglich nach Norden schleuderte, und so weiter, immer und immer wieder, viele viele Male, bis er sein Ziel erreichte und sich hinsetzen konnte. So zuerst auf einem Bein und dann auf dem anderen stehend, bewegte er sich in rasendem Schnecken­tempo in gerader Linie voran.

Ein seiltänzerischer Taumel, wie es später heißt.
Der Körper bleibt ein Rätsel. Um zu verhindern, daß er dingfest gemacht wird. In einer Zeit, in der er bald vollständig reproduziert werden kann, zielt seine Interpretation automatisch auf Abrichtung. Beckett versucht, ihn zu retten, jenseits sportlicher Exzesse. So beschreibt er, unbeirrt vom Diktat in­stru­menteller Vernunft, voll zärtlicher Anteilnahme in ihrem Aus­druck zweckfreie Bewegungen und Ver­richtungen. Auch wenn sie rational begründet wer­den, also der Befriedigung natürlicher Bedürf­nisse dienen, wirken sie dennoch skurril, absurd oder gar irre. In der Ruhe, dem trockenen Humor, überhaupt der unbe­irrbaren Ausge­glichen­heit seiner Sprache gewährt Beckett den Körpern seiner Figuren be­dingungslos Un­ter­schlupf. Beschützt werden sie vor den Reiz­fluten des industriellen Zeitalters. Mit Hilfe ihrer unverwechselbaren, absonderlich anzu­se­hen­den Be­wegungen entziehen sie sich hartnäckig der Fixierung auf genau vorgegebene Funktionsabläufe, unerbittlich festgelegt von immer komplizierter wer­denden Ma­schinen. Sie operieren einfach mit äl­te­rem Besteck. Auch dem Fetisch der Geschwin­digkeit zollen sie keinerlei Tribut, sondern suchen sich ihren eigenen Rhythmus. Und pfeifen auf gesell­schaftliche Aner­ken­nung. Stattdessen verfolgen sie stoisch ihren Rückzug und desorientieren die Um­welt mit ihrer Langsamkeit.
Beckett huldigt dem Vagabunden, der sich in seinem Verhalten, seinem Denken, seinen Gefühlen und Be­wegungen bewußt reduziert. Dieser Prototyp ist jedoch nicht etwa verzweifelt oder verbittert. Ihm stinkt es einfach, sich dem Gewirr täglicher Ent­schei­dungen, dieser Unübersichtlichkeit immer wie­der, eben täglich aussetzen zu müssen. Die simpel­sten Verrichtungen im Leben der Angepaßten er­fordern immer komplexere Überlegungen und Be­we­gungen. Das ist den Beckettschen Helden zu an­stren­gend. Sie sehnen sich nach einer Ver­ein­fachung, nach einer Ordnung, die dem Spießer cha­o­tisch anmutet, weil die vermeintliche emotionale Sicherheit dabei draufgeht. Sowohl ihre Spon­ta­neität als auch ihre Pedanterie scheren sich wenig um die Notwendigkeit, die historischen Zwänge mit­zudenken, durch die die Realisierung von Sub­jek­tivität verhindert wurde.


»Jemand humpelt langsam davon.«


Wie fühlen sie sich mit und in ihrem Körper: Molloy, Malone und all die anderen?
Zuerst zieht es sie weit hinaus. Sie werden aus der Bahn geschleudert, extrem verdreht oder gedehnt, so daß man sich fragt: Wie halten sie das aus? Das ist der Anfang. Später dann, kurz bevor das Projekt, die Bewegungslosigkeit zu perfektionieren, ab­ge­schlos­sen ist, mißlingt ihnen schon mal die räum­liche Orien­tierung, und der Körper äußert sich nur noch in Form geistiger Schwindelanfälle. Doch der Weg ist weit.
Und die Voraussetzungen kann nicht jeder erfüllen. Die Aspiranten müssen alt sein. Erst dann nämlich, wenn alle Illusionen aufgebraucht worden, ver­schwun­den sind, kann der Spaß, den Untergang, das Ende so spitzfindig wie möglich zu inszenieren, begin­nen. Manchen, wie Malone, würde noch nicht einmal die Ewigkeit genügen, um sich in ihrer eigenen Sterblichkeit zu suhlen und herum­zu­schlep­pen. Das Ende endlos dehnen und auskosten, es in so winzige Schritte aufspalten, daß eine Ewigkeit daraus wird. Darauf kommt es an.
Ferner müssen die Alten in spezieller Weise sanft­mütig und nachgiebig sein. Das kompro­mißlose, feinsinnige, immer tiefere Eintauchen in elende Ver­hältnisse; die radikale Anpassung, die mit Op­por­tunismus gar nichts zu tun hat, danach streben sie. Immer können sie sich vorstellen, mit noch weniger auszukommen. Sie, die das, was sie umgibt, ständig reduzieren, erfinden gleichzeitig immer wieder eine neue Hartnäckigkeit, um das Wenige, das geblieben ist, nochmals auszubreiten und für die Wahr­neh­mung aufzufächern.
Einsamkeit und Unabhängigkeit sind ihre einzigen Forderungen. Den äußeren Verhältnissen schutzlos preisgegeben, da sie der Umwelt nur ihren Körper anbieten, auf dem Weg, das Bewußtsein leiblich wer­den zu lassen, stoßen sie oft hart an, werden be­hindert und verletzt. Ohne Makel bleibt nur ihre von Willenlosigkeit geprägte Ehrlichkeit. Um sich zu beru­higen und abzulenken, erzählen sie Ge­schich­ten.
Die Reduktion, die sie anstreben, bedarf der Um­ständlichkeit. Viele Worte sind nötig, um dorthin zu­rück­zugelangen, wo sie alters- und zeitlos wirken und es sich bequem machen können. Sie brauchen Kis­sen aus alten Worten für (den) Kopf, das sanfte Verstehen ohne Zwang oder Wollen.

Dann beginnt wie aus der Brause einer Gießkanne ein feiner Regen vor meinen Augen und in meinem Kopf niederzugehen.

Es ist, als übermale jemand mit ruhiger, sanfter Hand die Dinge und Verhältnisse, die dazu bei­tra­gen, daß wir den Blick abwenden, weil uns die Viel­falt der Gleichzeitigkeit ermüdet. So aber können wir lange ausharren und uns sattsehen. Und beim Hören nehmen wir endlich wieder Einzelheiten wahr. Die Stilleben, auf denen dann doch von Zeit zu Zeit ganz behutsam und leicht etwas zu tönen oder sich zu regen beginnt, wirken plastisch und vertraut, al­ler­dings weniger durch die Zusammensetzung ihrer Einzelheiten, als durch ihre Grundatmosphäre, die an die tagträumerische Wirklichkeit innerer Land­schaf­ten erinnert. Ohne Geschichten wird der Kopf frei und leicht. Strände und Wüsten. Nur wenige Laute.