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TOD UND EROS BEIM ESSEN

Tod als Dekadenz

Literarische Eßszenen, die den Untergang einer Epo­che, einer Klasse, einer Kultur oder eines Mi­lieus andeuten, darauf hinweisen oder diese Deka­denz in ihrem eigenen Arrangement schon bergen, möchte ich als die sanfte Form des Todes be­zeichnen. Noch mischt er sich nicht aufdringlich in den Alltag, son­dern beschränkt sich auf die Führung der großen Gesten. Noch ist seine Herrschaft nicht allum­fas­send. Das Tabu der Sexualität, welches die ero­tischen bzw. Verführungsszenen des Romans im 19. Jahrhundert, insbesondere des französichen, durch Umkehrung beredt zu vermitteln wissen, also brechen, ist durch das des Todes noch nicht voll­ständig abgelöst worden. Denn die Zonen, in die das Verfemte abgedrängt scheint, werden von der Lite­ratur der letzten 250 Jahre bevorzugt zum Schau­platz für die Erprobung bürgerlicher Ideale erkoren. So bereitet der Tod sich zu Beginn dieses Jahr­hunderts auf seinen großen Sieg zweifach vor: in der Literatur durch die erhöhte Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wird, in der Gesellschaft durchs Schwei­gen hin­durch, in Form der Ausgrenzung und damit der Angst. Zuvörderst schlüpft er in das ge­schichtlicher Ent­wicklung inhärente Modell der De­ka­denz, ver­kleidet sich damit und erweist sich so als Gegen­spieler der handelsüblichen Rationalität. Die Zeit, in der letztere mit den Sinnen kokettierte, heimlich, in den chambres séparées¹, wo gegessen und gevögelt wurde, das Spei­sen die sexuellen Ge­lüste stimulierte und um­gekehrt, ist zur Reminiszenz verkommen. Im­mer weniger wird gelebt, dafür um so heftiger und länger gestorben. Beste Beispiele des zaghaften Be­ginns dieser aufs Sterben ausge­rich­teten Mentalität sind Thomas Manns Buddenbrooks und Der Zau­berberg sowie Joseph Roths Radetz­kymarsch. Alle Eßszenen dieser Romane werden vom Hauch des Untergangs leicht und kultiviert umweht. Mit weh­mütigen Gesten wird leise die Ouvertüre zur Sin­nenfeindschaft angestimmt.
Nach dem ersten Akt, dem Weltkrieg, bricht dann eine Epoche der Erfahrungsarmut an. Rückblickend werden ihre Anfänge in den erwähnten Romanen geschildert und sinnlich veranschaulicht durch den Tod der Helden oder zumindest das Ungewisse ihrer Zukunft, wie im Zauberberg. Ihr Ende mutet an wie Belohnung fürs überstandene Leben. Es überzieht das Dasein der Untergehenden mit einem matten Schimmer, mit dem Schmelz milder Ruhe. Solche Sanftmut des Todes bleibt als Potential von Be­schreibungsmöglichkeiten den intellektuellen Melan­cholikern vorbehalten. Sicher und fest halten sie an dem sozialen Privileg fest, die Bestandsaufnahme dessen, was verlorengeht, mit Ruhe zu Ende führen zu können. So zeigt sich Thomas Mann in den Bud­denbrooks als Pionier musealer Lebens­an­schauung. Präzise, ja akribisch archiviert er die Geschichte seiner Klasse bis zu ihrem Untergang. Im Bild des opulenten Mahls der Eingangsszene ist sie in Form der Verfallsgeschichte einer hanse­atischen Kauf­mannsfamilie schon in all ihrer Kom­plexität enthalten, obwohl der letzte Sproß der Familie noch gar nicht geboren ist.
Wie schon in der Einleitung erwähnt, ist nach Georg Simmel in der einfachen, pragmatischen Befrie­di­gung natürlicher Bedürfnisse der Gipfel aller Indi­viduation schon impliziert. Bezogen aufs Essen brachte er diesen Sachverhalt auf die lapidare Formel: »Was der Einzelne ißt, kann unter keinen Umständen ein anderer essen«². In der Konstruktion der Mahlzeit nun offenbart sich der Versuch, die »exklusive Selbst­sucht des Essens« (244) durch genaue Ge­wöh­nung ans Vereinigtsein einzu­däm­men, zu kom­pensieren. Der Einzelne soll seiner Ein­samkeit durch die Inszenierung von Geselligkeit enthoben werden. Die Bedeutung der budden­brookschen Mahle jedoch reicht darüber hinaus. Insbesondere die den Roman einleitende Tafel­runde, gewichtiger Teil des Festes, mit dem das neue Haus eingeweiht werden soll, zeichnet sich aus durch eine subtile Kultur der Geschmacks­aufreizung, die weit über das von Sim­mel ge­wünschte Maß hinauswächst. Im Interesse des Prestigegewinns verliert sich der Kontakt zum ur­sprünglich rein physiologischen Bedürfnis in durchs Unterstatement noch verstärkten Gebärden einer Kultur- und Reichtumsshow, in der jedem Gast sein gesellschaftlicher Standort genau zugewiesen wird. Die Einsamkeit der Speisenden wird also keineswegs zu kompensieren versucht, sondern durchs Gesell­schaftliche, das Arrangement, die Inszenierung, die Ordnung der Mahlzeit noch ver­stärkt. Nicht der Ver­zicht auf genau geregelte Ver­haltensweisen, sondern im Gegenteil ihre der Pracht­entfaltung inhärente, ihr angemessene Un­aus­weichlichkeit beschleunigt den Prozeß der Vereinzelung. So fallen schon jetzt erste Fragmente und Splitter aus dieser empfindlichen, wie Glas berstenden Ordnung. Die Unmittelbarkeit der in­neren Gelüste wird in ihren Ausdrucksformen an die Einhaltung präziser Tischsitten verwiesen. Noch mit der Kultivierung der Umgangs­formen und ge­schmack­lichen Nuancen wächst der zwangs­läufig soli­psistische Dünkel der Genießenden. Da den Jün­geren die Kraft zu dieser strengen Selbstmo­dellierung und Affektregulierung noch fehlt, kippt, insbesondere gegen Ende des Romans, der soziale Aspekt konse­quent aus den notwendigen Verrichtungen und Vor­gängen heraus. Die Ge­schichte schleudert die über­heb­lichen Subjekte aus ihrer Eigenbewegung in die des unaufhaltsamen Sterbens.



Bröckelnde Stützpunkte im buddenbrookschen Imperium

Das Arrangement der Mahlzeit korrespondiert also mit der forcierten und nicht etwa eingedämmten Spal­tung zwischen innerem und äußerem Men­schen. Vorgeführt wird dies im dritten Abschnitt, einer Art Zwischenkapitel, in dem der Konsul die Schwie­rigkeit, geschäftliches und privates Interesse aus­einanderzuhalten, zum Ausdruck bringt. Die sau­bere Zeremonie des Essens dient als beruhigende, wohl­tuende Maske vor dem Gesicht dieser Zer­rissenheit. Den Frauen wird die Rolle zugemutet, zwischen beiden Welten zu vermitteln. So war also, wie es sich gehört, »jede Spur von Besorgnis und Unruhe aus dem Gesicht Madame Buddenbrooks verschwun­den«³, als sie nach dem Gespräch mit dem Konsul wieder der Gesellschaft gegenübertritt. Der Rahmen bleibt gewahrt. Der Rahmen, das ist das Essen, durch die Erfordernisse an feiner Ord­nung zur Tabuzone für Gefühle aufgemotzt. Die Gesten der von adeliger Etikette kopierten Under­statement-Weltläufigkeit ver­ordnen eine geradezu diktatorische Blindheit gegen­über den sinnlichen Ge­nüssen. Die Abwesenheit der Sinne in der Gleichgültigkeit gegenüber »Salz und Brot« ent­spricht der Wichtigkeit der Inszenierung. In der Wert­schätzung des Dekors werden Gefühle nur als Zitate noch übermittelt. Die Kunst, soziale Sou­veränität zu inkarnieren, gipfelt in der Fähigkeit, sich durchs Essen nicht etwa von der Wahrnehmung höherer Pflichten ablenken zu lassen. Es gilt, die unterm Strom belangloser Konversation ver­bor­genen Botschaften geschwind zu entschlüs­seln. Nicht der Aufwand selbst entfremdet die Teil­neh­menden vom Eingedenken der »primitiven« phy­siologischen Not­wendigkeit, Nahrung zu sich zu nehmen, sondern der Zwang zur Untertreibung: so zu tun, als sei man »auf ein ganz einfaches Mittagsbrot gebeten« (9) worden. Dem Bewußtsein der sinnlosen Verschwendung ist in Bürgerhäusern der Zutritt verwehrt. Das, was »von massivem Golde um­schlossen« (13), soll denn auch nur Salz sein, und süßes, gewürztes und schweres Gebäck nur Brot. Diese verhärmte Brot- und Salz-Mentalität unter fürstlichem Gepränge ist denn auch zum Übelwerden. Niemand darf ja wissen, wie schwer und üppig die Speisen wirklich sind, die da auf­gefahren werden. Einzig Kinder und Klassen­frem­de bekommen das zu spüren.
So hebt der ärztliche Kleinbürger schon beim Emp­fang warnend den Zeigefinger. Er weiß, daß er zu tun bekommen wird. Gegen Ende der Mahlzeit liegt also der junge Christian Buddenbrook auf einer Polster­bank in der Säulenhalle und »ächzte leise und herz­brechend« (25). Er kann nicht umhin aus­zusprechen, daß ihm »verdammt« übel sei. Die Heftigkeit dieser Äußerung wird jedoch sogleich von der hinzu­tretenden Konsulin aufs schärfste zu­rückgewiesen: »Wenn wir solche Worte gebrauchen, straft uns der liebe Gott mit noch größerer Übel­keit!« (26). Zu treffen gilt es nicht seine ungezügelte Wortwahl, sondern die in der Übelkeit zum Ausdruck kommende starke Abwehr schwerer Speisen. Diese vehemente Aversion ist verpönt und muß korrigiert werden. Das Mahl ist als Teil selbstverständlicher Respräsenta­tionspflichten in die Normalität schwer­fälliger und besonnener, von Tradition gesättigter Kaufmanns­gesten eingebettet. Also müssen die Speisen ge­schluckt werden, denn sie geben nur den Rahmen für die ungleich wichtigere Konversation ab, werden zu Mitteln der Gesprächsführung und bil­den einen Stützpunkt, von dem aus die Gesellschaft zu Ausflügen aufbricht, auf den sie sich aber in Mo­menten der Gefahr gerne zurückzieht, um Unter­schlupf zu finden.
Als vom kontinuierlichen »Sinken« einer allen be­kannten Firma die Rede ist, »blickte (man) in seinen Teller« (17) und sah wohl das Essen nicht mehr. Der Konsul, der mit düsterem Gesichtsausdruck über das Schicksal des Firmeninhabers räsoniert, bewegt dabei vornübergebeugt und - fügen wir hinzu -, an seine Gedanken verloren den Löffel in seiner Sup­pe. Um zu signalisieren, daß er wieder aufgetaucht ist, hebt er »mit einem zerstreuten Lächeln sein Glas seinem Vater entgegen« (18). Mit dem Im­perativ: »Nein, halten wir es nun mit der fröhlichen Gegen­wart!« (18) wird vom Schwiegervater des Konsuls die Entschärfung der Situation einstweilig vollendet. Diese Gegenwart ist jedoch nicht nur eine fröhliche, sondern ausgesprochen aufwendig und durchra­tio­nalisiert: Die Meißner Teller mit Goldrand werden gewechselt, und mit Hilfe eines Schall­trichters ruft das Faktotum Mamsell Jungmann ihre Anordnungen vom Eßsaal in die Küche hinein.
Doch nur kurze Zeit später wird schon wieder auf bittere Erinnerungen Bezug genommen und noch einmal verdeutlicht, welche Funktion dem Mahl be­wußt oder unbewußt beigemessen wird. Der Pastor erzählt eine Geschichte über Madame Buddenbrook. Darin trifft sie tränenüberströmt auf der Straße mit dem Erzähler zusammen und stößt hervor, daß sie in die Trave gehen wolle: die Franzosen, die sich in ihr Haus einquartiert hätten, seien gerade über dem Silberzeug. Diese Überreaktion markiert, in welchem Maße das Interieur und die die gesellschaftliche Position der Familie zur Schau stellende Insze­nierung des Essens als Festung dem äußeren Ich Schutz vor Zusammenbruch gewähren. Dramatur­gisch verkommt das Essen zwar zum Accessoire eigentlicher Inhalte, offenbart jedoch die innere Stimmung der Handelnden genau.
Ob der Ausdruck des Erzählenden dem des Es­senden und des Essens selbst widerspricht wie bei Poet Hoffstede, der den aus saftigen Dingen kom­ponierten Bissen auf seiner Gabel gegen den un­gemütlichen Ausdruck Bonapartes, von dem er zu gleicher Zeit spricht, ins Felde führt (20), oder ob beides, die Gebärden des Essers mit dem Inhalt des Erzählten im Ausdruck zur Deckung gelangen wie im schon erwähnten Fall des Konsuls, immer wird die Möglichkeit zuschanden, sich in der eigenen Stim­mung und dem daraus Veräußerten, dem Reden also, von dem Eigenausdruck der Speisen leiten zu lassen. Die Ehrfurcht vor der Dynamik der vom Menschen für den Menschen zugerichteten, zube­reiteten Natur ist verschwunden. Im Bewußtsein der Anwesenden existiert die Nahrung kaum. Statt des­sen mutiert darin Natur oder besser Natürlichkeit zur nahtlosen Übereinkunft zwischen schwerem Sil­bergerät, mit dem man gute, schwere Sachen ißt, schweren, guten Weinen und der Kundgabe seiner eigenen Meinung: »Man war bald bei den Ge­schäften« (22). Diese Übereinkunft jedoch wird, wie wir noch sehen werden, als Fluch anmaßender Ge­sellschaftlichkeit, die in der selbstgewählten Prio­rität geschäftlichen Gebarens ihren Ausdruck findet, verderblich wirken. Als eine aufs Funktionieren des Handels auf allen Ebenen abgestimmte Lebens­einstellung veranlaßt sie denn auch die Konsulin zu strengen Erziehungs­maßnahmen gegenüber Chris­tian, so wie sie den Doktor zu wehmütigen Betrach­tungen über die Ver­drängung von Todeszeichen aus dem Leben seiner Klientel anhält. »Er hatte, so jung er war, die Hand manches wackeren Bürger in der seinen gehalten, der seine letzte Keule Rauch­fleisch, seinen letzten Puter verzehrt hatte« (26).
Auf der unmittelbaren Handlungsebene kündigt sich der Untergang dieser von Ansehen und Prosperität umstrahlten Familie von Ferne in der Figur des Christian an. In dessen Idiosynkrasien, der latenten Hysterie und besonderer Anfälligkeit gegenüber ei­ner Angst vor Zufällen, Schicksal, schuldlosem Un­glück: Ausdruck einer dekadenten Nervosität und Flat­trigkeit, kulminieren die Auslassungen not­wendiger Naturbezogenheit: Explosionen ins Leere. »Man sitzt bei Tische, man ist beim Obste angelangt und speist unter behaglichen Gesprächen« (47). Plötzlich jedoch legt Christian mit bleichem Gesicht einen ange­bissenen Pfirsich auf den Teller zurück. Mit thea­tralischen Gesten phantasiert er die Mög­lichkeit, den Kern des Pfirischs unter gräßlichem Würgen aus Versehen zu verschlucken. Er malt diese Szene derart plastisch aus, daß der Eindruck entsteht, als habe er ihn tatsächlich verschluckt. Dieser Vorfall wie auch seine Fortsetzung ca. zwei Dekaden später, als er, nach achtjähriger Ab­we­senheit heimkehrend, bei Tisch ausführlich von sei­ner zeitweisen Un­fähigkeit zu schlucken berichtet, einer Unfähigkeit, die sich, wie er selbst indirekt zum Ausdruck bringt, auf eine tiefe Angst zurück­führen läßt (180), weisen auf inhaltlichem Neben­gleis den Leser prophy­laktisch, also so, daß er nicht allzu heftig erschrickt, auf den Prozeß der ge­sellschaftlichen Desintegration der Fa­mi­lie hin. Die­ser hat sogar, allerdings rein chrono­logisch be­trachtet, den Tod der Madame zur Folge. Doch stirbt es sich in jenen Zeiten noch einfach und zielbewußt.
Der Tod, den Christian in sich trägt, ist schon viel erschreckender und bedrohlicher als der seiner Großeltern. Er tritt nämlich als Geck auf. Durch diese Verkleidung gewährt er den anderen Auf­schub. Durch vorsichtige bis vehemente Ablehnung dieser »Nar­rens­possen« wird die Erkenntnis ver­zögert, daß auch sie von dieser Figur, allerdings mit anderen Kostü­men ausstaffiert, schon besetzt, be­lagert sind. Der starre Glaube an die uner­schüt­terliche Integrität des fami­lialen Imperiums, den sie mit letzter Kraft gegen die bitteren »Schick­sals­schläge« auffährt, läßt Tony, die Kecke, als letzte den unaufhaltsamen Untergang ihrer Familie und der damit verbundenen Lebenskultur erspüren. Die Klammer, die das Mahl darstellt, und die eingangs der Chronik nicht nur die Familien­mitglieder, son­dern auch die Verbindungslinien nach draußen straff zusammenhält und -drückt, beginnt sich zu lockern. Sieht man einmal von dem schon erwähnten Zwi­schenkapitel, in welchem der Leser auf ein Fami­lienmitglied aufmerksam gemacht wird, das aus der häuslichen Ordnung herausgefallen und in den Au­gen der Verwandten auf Abwege geraten ist, und von der Übelkeit Christians ab, Unstimmigkeiten al­so, die von den nicht direkt Beteiligten kaum wahr­genommen werden, so setzt dieser Prozeß mit dem Auftreten von Grünlich ein.
Offiziell in den Familienkreis eingeführt im Rahmen eines sonntäglichen Mahls, zu dem er geladen ist, wird seine Physiognomie schon zuvor, anläßlich ei­nes überraschenden Besuchs im Garten der Bud­denbrooks mit einigen treffenden Ausdrücken be­dacht. Die Rede ist von hellblondem, spärlichem Haupt­haar, einem rosigen Gesicht mit einer auf­fälligen Warze «neben dem einen Nasenflügel« (65) und Favoris »von ausgesprochen goldgelber Farbe« (65). Wäh­rend dem Mahle selbst übernimmt nun die Konsistenz der Speisen Grünlichs weitere Charak­terisierung. Auf einer tieferen, beim durch­schnitt­lichen Lesen kaum wahrnehmbaren Ebene verdich­tet sie die Beschrei­bung emotional. Die Ingre­dien­zen der Mahlzeit wie »Muschelragout, Julienne­sup­pe, ge­backene Seezun­gen, Kalbsbraten mit Rahm­kartoffeln und Blumenkohl, Marasquino-Pudding« (70) sind ent­weder weich oder schleimig, glibbrig oder wäßrig. Zumindest jedoch erwecken sie, selbst wenn man die Speisen nicht kennt, die Assoziation solcher Be­schaf­fenheit. Zu jedem dieser Gerichte findet Grün­lich einen neuen Lobspruch. Die Reak­tionen auf sei­ne delikaten Hervorbringungen werden ausgespart. So entsteht der Eindruck, als kokettiere er mit sich allein, wie auch das Essen nur ihm ge­widmet scheint. Es ist auf die Verdeutlichung seiner Persönlichkeit abgestimmt, komponiert als Spiegel seiner selbst. Die Hoch­sta­pelei wird sinnlich spür­bar: die ungesunde Verdauung eines Kriechers, der sich mittels glo­ckenförmiger Gehröcke (70), erbsen­farbener Bein­kleider (74), grün­gelber Anzüge (65) und gelbka­rier­ter Ulster (102) herausputzt, den Dünn­schiß seiner Plänkeleien auf den Leib schreibt, schlüpfrig durch die goldgelben Favoris, intrigant durchs spärliche Haupthaar. Gegen Ende der Grün­lichepisode begeg­net diesem Einbre­cher in die Nor­malität hanse­atischer Sittsamkeit auf seiten der Be­trogenen unver­hohlener Ekel. Auch dazu gibt es ei­ne Ouvertüre. Als Tony feststellen muß, daß Grün­lich nach englischer Sitte zum Frühstück ein leicht­gebratenes Kotelett zu verspei­sen beliebt, kann sie nicht umhin, dies in »hohem Grade widerlich« (136) zu finden. Bei den Schwarz­kopfs hingegen, einer kleinbürglichen Fami­lie, bei der Tony während ihrer seelischen Krise Unterschlupf findet, sind die Kon­turen klar und scharf umrissen, Kleider wie Nahrung von fester Konsis­tenz. Durch die Idealisierung na­türlicher Lebensweise wird Grünlich bloßgestellt, entlarvt. Das Blau der Gans in seinen Augen (75) tritt an gegen die gut­mütige Variante in den Augen von Morten (84), dem studierenden Sohn der Lot­senfamilie. Tony begegnet selbstgebackenem Ko­rinthenbrot, einem bootförmigen Brotkorb und Schei­benhonig, der »reine(n) Natur« (84 u. 87). Der Sohn in grauer, geschlossener Joppe mit Gummizug im Rücken für die Selbstdisziplinierung, mit engste­henden Zähnen und demokratischer Gesin­nung führt sie geduldig in die Gefilde bewußter Welt- bzw. Nahrungsaufnahme ein. Durch Fragen wie: »Ist ein Ei so viel wert wie ein Viertelpfund Fleisch?« (87) wird sie als wohlbehütetes, bourgeoises, ein wenig naives Fräulein, als verspielt und verwöhnt bloß­gestellt. Für sich ist sie jedoch beinahe glücklich. So verliebt sie sich denn auch in Morten. Dennoch wird sie quasi gezwungen, Grünlich zu heiraten.
Obwohl das Hochzeitsmahl nur mit einem Satz er­wähnt wird, reicht dies hin, um klarzustellen, daß es funktionell überlastet ist. Das, was es zu kitten, zu besänftigen oder zu verdrängen als Aufgabe gestellt bekommen hat, vermag seine sinnliche Faszination und Verführungskraft kaum mehr zu be­wältigen. Es »ward ganz außerordentlich gut und viel gegessen« (113). Im Tonfall dieses Satzes schwingen ver­zweifelt drängende Partikel mit. Bilder einer aus­gewachsenen Mesalliance werden evo­ziert. Die Heuchelei hinter und die Geschäftsmäßigkeit der Verbindung müssen mit schwerem Geschütz für die nervösen Mägen zugeschüttet werden. Der ohren­betäubende Lärm der Speisen soll das Krachen der Grundfeste und das heimliche Verschwinden des Brautpaares übertönen.

Später hocken sie alle nur noch über den Spalten und Rissen des Gebäudes. Nach dem Tod des Patri­archen Johann Buddenbrook läßt Thomas für sich und seine Frau Gerda zwar ein noch größeres Haus erbauen. Und zum Anlaß der Einweihung wird ein Diner abgehalten, »von (dem) man an der Börse noch acht Tage lang in den lobendsten Ausdrücken sprach« (208). »Es hatte sich gezeigt, daß die junge Frau Konsulin zu repräsentieren verstand« (208). Dennoch wird auch diese Inszenierung kurz ab­gehandelt. Auch sie ist nicht mehr der genauen und weitschweifigen Rede wert. Statt dessen wird der nachträglichen Reflexion umfassenderer Ausdruck zugebilligt. Und hier, am späten Abend, im von den Gästen verlassenen Haus, zeigt sich zwischen den Eheleuten, welche Folgen diese angestrengten ge­sellschaftlichen Übungen bei Gerda, der »Künstle­rin«, schon zu Beginn ihrer Ehe zeitigen. Thomas, der in Kaufmannsmanier Nutzen und Kosten dieses Essens gegeneinander abwägt, erwidert sie, daß ein Diner »so außerordentlich beruhigend« (209) wirke. Im folgenden dann wird allerdings Beruhigung mit geistiger Indolenz gleichgesetzt. Diners sind so be­ruhigend, daß man ganz dumm davon wird, könnte die Übersetzung lauten. Am Nachmittag habe sie sich »ein wenig merkwürdig« (209) gefühlt, doch nun sei ihr Gehirn »so tot, daß…der Blitz (dort) ein­schlagen könnte« (209), ohne daß sie bleich oder rot werden würde. Das Mahl als Fusion zwischen schweren Speisen und genau vorgeschriebenen Handlungs- und Verhaltensmustern dörrt die hier zwar ein wenig merkwürdige, doch fürs selbst­bestimmte Leben notwendige Kreativität aus, tötet sie. Es wird zum Signal dafür, wie beunruhigend diese »beruhigenden« Diners noch werden.
Das Fest, welches den endgültigen Abstieg ein­läutet, das weihnachtliche, mit Hanno, dem Sohn von Gerda und Thomas als Hauptfigur, wird von Thomas Mann allerdings wiederum genauestens se­ziert (359ff.), so daß die beiden ausführlich geschil­derten Mahlzeiten wie das anfängliche Einweihungs- und dieses Weih­nachtsfest wirken wie die Ouvertüre und das Finale einer konsequenten Abstiegs­geschichte. Bevor es zur eigentlichen Speisung kommt, ist man von der sinnlich anstrengenden, weil religiös aufgeplusterten Zeremonie schon aus­reichend abgefüttert worden. Das »Tochter Zion, freue dich« der Chorknaben, das von der Konsulin vorgetragene Weihnachtskapitel aus der Bibel, der obligate Hit »Stille Nacht, heilige Nacht«, die Ver­mischung von »O Tannenbaum« mit dem Duft an­gesengter Tannenzweige und die reich­haltige, von mystischem Glanz flimmernder Kerzen­flammen über­zogene Bescherung ersticken noch den letzten Rest von Appetit. Nun, im »Überfluß (eines) Glückes« (365), das seltsam fragil anmutet, pras­seln auserlesene Leckerbissen auf Hannos zartes Gemüt. Konfekt, Marzipan, braune Kuchen und Biskuits, in Tee getunkt, zur Einstimmung; in großen Kristall­schüsseln aufgefahrene Mandelcreme und »Wein­gelee in Gläsern, wozu englischer Plumcake geges­sen wurde« (367), als Imbiß. Schon in dieser Phase der Einleitung in bürgerliche Pracht verzehrt Hanno, den Kopf in die Hand gestützt und reiz­gesättigt die erwähnten Süßigkeiten rein »mecha­nisch und weil es zur Sache gehörte« (367). Seine Glückseligkeit ist nun schon ins Stadium der Weh­mut übergetreten. Schuld ist »die ängstliche Be­klom­menheit, die ein überfüllter Magen verursacht« (367). Im Kreise der Erwachsenen hingegen drän­gen gärende Probleme - wieder einmal geht es um die inzwischen dritte Mesalliance von Tony - zum Ausbruch hin. So wird es Zeit, zu Tische zu gehen. Durch den Ausdruck des althergebrachten Tisch­gebets und das all­ge­meine Lob für den mit »einem Brei von Maronen, Rosinen und Äpfeln gefüllten Puter« (370) wird die Gesellschaft notdürftig wieder zusammengekittet. »Die kreisenden Schüsseln ent­hielten Portionen, als ob es sich bei jeder einzelnen von ihnen nicht um eine Beigabe und Zutat, sondern um das Hauptgericht handelte, an dem sich alle sättigen sollten« (370). Die, welche zu kurze Nerven haben, eine »Qual«, mit der Christian zu kämpfen meint (366f.), erleiden auf der stürmischen Seefahrt durch die kultivierte Bar­barei dieser Nahrungs­im­perative Schiffbruch. »Mit Mühe (verstaute Hanno) ein weißes Stück Brust­fleisch nebst Farce in seinem Magen« (370). Sein kleiner Stolz über die Ehre, mit den Erwachsenen tafeln zu dürfen, zwingt ihm zu schlechter Letzt auch noch rote, weiße und braune Eisbaisers hinein, bis er schließlich, nachdem man zu Butter und Käse übergegangen war, in seinem Bett strandet, »auf dem Rücken, aus Rücksicht auf seinen Magen« (371). Bei einem »Umzug um die Tafel« (371) hatte er noch mit allen Anwesenden angestoßen, am Ende jedoch die Blickprüfung seines Vaters - Thomas suchte seinen Blick und fand ihn nicht, denn Hannos Wimpern »hatten sich tief, tief bis auf die zart bläuliche Umschattung seiner Augen gesenkt« (371) - nicht bestanden.

¹Zur Tradition der chambres séparées s. Hartmut Kiltz, Das erotische Mahl, Frankfurt 1983
²Georg Simmel, Soziologie der Mahlzeit (1910), in Brücke und Tür, Stuttgart 1957, S. 243 - 250
³Thomas Mann, Buddenbrooks, Frankfurt 1960, S. 16