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TOD UND EROS BEIM ESSEN

EROS BEIM ESSEN

Einleitung

Aus dem Untergang der Mahlzeitordnung ergibt sich die Notwendigkeit, ihre Funktion als Zusammenhang und Zusammenhalt stiftendes Normengefüge in der Versprachlichung kulinarischer Gesten weiterleben zu lassen. Mit der permanenten Dokumentation der eigenen Genußfähigkeit soll die Einsamkeit des Es­sers aufgefangen werden. In Hinwendung auf eine fiktive oder reale Öffentlichkeit attestiert er sich verbal die Verallgemeinerbarkeit seiner geschmack­lichen Erlebnisse. Da diese sich nur noch selten zum Status einer Erfahrung verdichten, ihre Vielfalt all­mählich abnimmt, erleben Phrasen, die das defi­zitäre Gefühl leugnen, Hochkonjunktur. Die sprach­lose Ver­ständigung über das, was wohlschmeckt, verliert an Verbindlichkeit, ist immer weniger selbst­verständlich. So mündet eine aufgeregte, flattrige und angstvoll nivellierende Geschwätzigkeit in die Versprach­lichung des Essens, die die Ausdif­fe­renzierung von Geruchs- und Geschmackssinn nur nebenbewußt noch zuläßt.
Das Bedürfnis nach Reichtum und großer Auswahl an kulinarischen Genüssen wird vorläufig und schein­heilig befriedigt durch eine Flut von Bildern, die die real verarmten Eßsituationen würzen sollen. Diese Halluzinationen thematisieren ein Leben, das dem Essen einfach immer paßt. Als Resultat der uner­bittlichen Verführungsgewalt totalitärer Zeichen­sys­teme werden Utopien schlicht geschluckt und schlecht verdaut. Der Schlüssel zum Paradies liegt nun im Augensinn. Durch die Reduktion auf dies Organ der Vernunft wird Lust »vergeistigt«. Der Aus­tausch unverbindlicher und doch schon im Entwurf abge­nutzter Zeichen, vom Selbstwertgefühl zur Kommu­nikation aufgestylt, flickt ihr eine Pro­these zusammen.
Ihre sexuelle Schwester humpelt mit, und auch sie verheddert sich in den frei flottierenden Partikeln einer subjektlosen Subjektivität und fällt quatschend immer wieder zu Boden. Obwohl die Dimensionen sowohl des kulinarischen als auch des sexuellen Ge­nusses sich erweitert haben, führt deren Ver­sprachlichung als Strategie umfassender Kompen­sation zur Entkernung ihrer Struktur. Ebenso endet das zerredete Essen in der Eliminierung seiner erotischen Potentialität. Statt Mahlzeit und Eros also die verbalen Sturzbäche auf das Essen und die Sexualität. In der Leere der Sprachhülsen hallt wider, was Wer­bung anstelle der Vermittlung von Inhalten reproduziert: ihren eigenen Habitus näm­lich, Wer­bung. Geworben wird um Entgrenzung, Über­schrei­tung, den Exzeß, die Erfahrung des Heiligen, so, wie Bataille es versteht, die Öffnung oder Sprengung der zweiten Nacktheit (Baudrillard).
Noch heute verbirgt sich hinter inszenierter Ge­selligkeit die schreckenerregende Sehnsucht nach Auflösung der zivilisierten Schranken. Allerdings entwickelt die schale Gemütlichkeit bei Tisch nun auch einen eigenen Ausdruck. Die Schwierigkeit, sowohl die erotische als auch die alimentäre Erfah­rung zu fassen, sie adäquat zu verbalisieren, macht beide zum unerschöpflichen Quell von Ideologi­sierungen, deren »vernünftigste« die menschlicher Nähe und Wärme ist. In diese »Tyrannei der Inti­mität« (Richard Sennett) verirrt sich die Sprache. Selbst die Kunst vermag das Schweigen der erotischen Erfahrung nicht mehr zu vermitteln. Das Sprechen über die Körper hat ihr eigenes Sprechen abgelöst. Sie haben sich in ein Grab der Zeichen verwandelt (Baudrillard).
Dennoch bleibt die Erotik tabu. Da sie in ihrer Ge­walt­samkeit, wie Bataille nachzuweisen versucht hat, dem Tod verwandt ist, muß die Sprache als viel­leicht kleinste Einheit der Sexualität die Ent­äußerung des Ich in der Vereinigung verhindern, indem sie die Erotik in kleine Details aufspaltet. In der Perfektion der Codierung gipfelt die vermeint­liche Selbst­ver­gewisserung beim und nach dem Akt.
Wenn jetzt selbst beim Essen nur noch gesprochen wird oder die Medien einen mit Sprache sättigen, so bleibt der Mund dem Essen verschlossen, er bleibt geschlossen und wird dem Verschlingen, dem Ein­verleiben und Küssen entfremdet. Beim Opfermahl war die Erfahrung des Essens der der erotischen Vereinigung und damit dem Tod sehr ähnlich. »Das Opfer verband den Vorgang des Essens mit der Wahrheit des im Tode geoffenbarten Lebens«.¹ Dem Tod verleiht das Opfer »den Aspekt aufquellenden Lebens, dem Leben die Schwere, den Taumel und das Offenwerden gegenüber dem Tod« (Bataille, S. 87). Im Zustand des Todes geht dem geopferten Wesen jede Besonderheit ab, die es als diskon­tinuierlich kennzeichnete. Nun wird es unendlich und unbegrenzt. Diese »organische Kontinuität des Le­bens« (Bataille, S. 87) einverleiben sich die Teil­nehmer des Opfermahls. Doch ebenso wie der Opferpriester den Menschen oder das Tier, das er schlachtet, löst der Liebende die geliebte Frau auf. »Die Frau ist in den Händen dessen, der sie überfällt, ihres Wesens beraubt« (86). Für Bataille ist im Ekel, der im Verlauf der organisierten Über­tretung des Gesetzes, des Verbotes überwunden werden sollte, ein letzter Rest dieser archaischen Erfahrung le­bendig.
Ansonsten ist die heutige Praxis auf die Kraft der Imagination angewiesen. Doch selbst deren Erschei­nungsformen, also das Niedrige, Verbotene und Schmutzige sind abgenutzt, in der Ungefährlichkeit referenzloser Zeichen versunken. Die Universalität von Werbung verhindert die Möglichkeit, etwas aufs Spiel zu setzen. Auch die Übertretung ist Teil der Ordnung geworden. Entkleidung führt kaum je zu einer Nacktheit, die die Unendlichkeit des Begeh­rens und somit der Überschreitung verspräche. Statt dessen wird sie integriert in die Inszenierung der Frau als Phallus. So verweist selbst die Imagination auf die Unterwerfung des Körpers unter die Gesetze der politischen Ökonomie. Nach Baudrillard steigt der Phallus zum allgemeinen Äquivalent auf. Selbst das Böse noch wird schal unter der Makellosigkeit des Codes, steril in der Indifferenz der Geschlechter unter dem Diktat des starren, zugenähten Schwan­zes. Die Kastrationsangst, die ihn so mächtig wer­den läßt, entledigt sich im Zeitalter der Simulation (Bau­drillard) des Schmerzes, aus dem sie her­kommt, und der die Übertretung begleitete. Körper, die von der Mode mit Zeichen übersät werden und sich somit selbst verwandeln, können nicht mehr befleckt werden, da sie noch in ihrer Nacktheit etwas anderes darstellen, als sie sind. Schönheit, die besudelt werden könnte und sich krass von der Häßlichkeit des abscheulich Animalischen abhebt, wird von der Künstlichkeit zusammengeschmolzen. Die allgegen­wärtige Angst vorm Tode flüchtet sich in den Versuch, die Natur des Menschen abzu­schaf­fen. Das konvul­sivische Zucken des Fleisches in der ero­tischen wie auch der zu ihr hinführenden ali­mentären Erfahrung wird den Simulakren ange­hängt. Durch Simulation wird es als Zeichen ge­nossen, verdoppelt und seines Sinnes beraubt.
So verflüchtigt sich die Fähigkeit des Essens, das erotische Verlangen in die Sprache der Nahrungs­dinge zu übersetzen. Indem der geile Esser die referenzlosen Zeichen der Nahrung mitißt, verspeist er mehr, als er ist oder auch sein kann. Die Nahrung läßt seine Lust absterben, und er verachtet sie, muß sie verachten, da sie immer nur tot für-ihn-ist. In den Zeichen, die er beim Essen austauscht, ist die Eroberungsfähigkeit des Imaginären schon absor­biert. Den Speisen kann nichts mehr angehängt werden. Da der Esser sie sich jedoch anverwandelt, bestätigt ihm ihre Aufnahme den Verlust seiner Subjektivität und den irreversiblen Prozeß seines Sterbens. Wo keine festen Grenzen sind, kann keine Überschreitung eingeleitet werden. So wird Eros beim Essen zum Wellenreiter. Indem er im Tunnel unter der Schaumkrone verschwindet, überzieht seine Eleganz als Ahnung oder seine verwüstende Kraft als Furie des Verschwindens noch einmal auch die Nahrungsaufnahme mit einem flüchtigen Glanz. Als Zitat gleitet der Schmerz durch den Hohlraum der Todeswelle und wird als Glitzern, Vergnügen, Luxus des Überlebens unwirklich. Solange der Rei­ter nicht von der Welle des Untergangs geschluckt wird, arbeitet also auch das erotische Zitat im Neben­einander kulinarischer Moden an der Über­windung des Ekels. Selbst die Sexualität als profanisiertes Rudi­ment heiliger Erotik kann durch die Würze, mit der in der Kochkunst der Ekel besänftigt werden soll, nicht mehr aufgerührt wer­den, in Gier umschlagen. Ihre von Aufregung geprägten Ersscheinungsformen und die zuneh­mende Unfähigkeit, die mit ihr ver­knüpften Gelüste zu befriedigen, spiegeln das Be­dürfnis nach dem symbolischen Tausch des Todes. Da die Ge­sell­schaft die Befriedigung dieses Bedürf­nisses strikt verweigert, wächst es an und artikuliert sich im sexuellen Jieper, einer Sucht, die das Ende der erotischen Überschreitung zu besiegeln scheint. Als Verpackung des Begehrens nämlich sind nur Liebe und Flirt noch zugelassen.
Auch die literarische Sprache dieses Jahrhunderts ist der reifizierenden Wirkung von Erkenntnis noch zu sehr verhaftet, als daß sie den Erfahrungs­hungrigen in den Grenzbereich hätte führen können, wo er sich vor der katastrophischen Entladung seiner Souve­ränität fürchten müßte und sie gleich­zeitig wünschen könnte. Die Stille, die diese Erfahrung begleiten müßte, ist jedoch noch immer analytisch, niemals be­grifflos beredt. Statt dessen wächst ihre Undurch­dringlichkeit. Sie beginnt, der toten Stille einer came­ra silens zu ähneln. Auch die Laboratorien privi­legierter Erfahrungschemie à la Proust spucken nur noch Rest­gemische aus, die in keiner empirischen For­schung aufgegangen sind.
Die Utopie von Fourier schließlich, Erotik als inten­sivste und Gastronomie als extensivste Passion gesellschaftlich zu etablieren, sie als Fundament eines Modells von Zusammenleben zu begreifen, ist von der Herrschaft der Rationalität billig an den Mythos der Unsterblichkeit weitergegeben worden. Bedingt durch die Omnipräsenz des Todes also sind nur wenige literarische Beispiele einer Verbindung von Eros und Essen authentisch oder vollwertig zu nennen, d.h. seiner prägenden Gewalt entgangen. So wird sie meist nur am Rande zitiert, wie z.B. auf dem Zauberberg, bei Hemingway, Marinetti, Max Frisch, Martin Walser, Peter Weiss oder Ror Wolf, ist also eingebettet in die zeitgenössischen Er­schei­nungs­formen des Todes bei Tisch und somit im ersten Teil schon abgehandelt worden. Noch sel­tener tauchen Erotik und Sexualität beim Essen eigenständig oder auch nur explizit auf.
So versucht beispielsweise Bataille durch betont waghalsige Assoziationen das Auge für die ero­ti­sche Überschreitung zu reklamieren. In Form fri­scher oder weichgekochter Eier, gerösteter Stier­hoden, den offenen Augen einer Toten oder dem heraus­geris­se­nen Priesterauge setzen zwei Puber­tierende in ihren sexuellen Zeremonien lustvoll die Allgegenwärtigkeit der überwachenden Instanz ein. Die Perfektion des Kontrollauges korrespondiert mit der Gefahr, der sie sich aussetzen, um seinem Blick zu entkommen. In seiner Rein- und Schönheit ist es Gott gleich und würzt den Exzeß der Zerstörung. Doch wird die Imagination zur Obsession, da schon in diesem historischen Moment die Zeichen sich zu schnell verändern. Ihre neuen Konstellationen be­zich­tigen das Paar des krampfhaften Ausdrucks ihrer Beses­senheit.
Auf der Jagd nach Liebe von Heinrich Mann hin­gegen werden nicht Nahrungsmittel selbst, sondern ganze Mahlzeiten als Requisiten der erotischen Überschrei­tung funktionalisiert. Diese Jagd gipfelt nun nicht mehr wie noch im französischen Roman des 19. Jahr­hunderts in der Sicherung einer steilen Karriere, die eingeleitet und begleitet wurde duch die gepflegte Erotik der chambres séparées, ver­sprüht schon lange nicht mehr den Duft der großen und vor allen Dingen mondänen Welt, sondern endet mit der tödlichen Erschöpfung des Helden, der doch immer nur die eine liebte und sich in halbherzigen Orgien lustlos verausgabte.
Doch auch in der derbe Sinnlichkeit suggerierenden Figur des Bloom aus Joyces Ulysses und bei den Marmaladenessern aus Jahnns Perrudja lebt die insistierende Künstlichkeit inszenierter Mahlzeiten weiter. In beiden Fällen scheint Sprache in ihre Struktur das aufzusaugen, was Tribut an das Projekt der Moderne sein muß, damit die Inhalte verfügbar sind für »archaische« Projektionen einer wild flu­tenden und gewaltsam entkultivierten Lust. Hier sprechen die Autoren Sexualität von Reflexion frei, indem sie sie ans Essen koppeln, das Pragmatische des Triebes herauskehren. Legitimiert durch den fortgeschrittenen Stand der sprachlichen Brechung darf die Lust sich etwas vorgaukeln, Vergangenheit zitieren, ohne anachronistisch zu wirken. Jedoch beginnt gerade auf versuchsfreiem Feld die in groß­städtischen Reizfluten sich versammelnde Mode (Ulysses) oder die der Weltanschauungen (Perrudja) das Geschlecht als Differenz aufzuheben.
In der Welt Georg Bleisteins ist dann alles so trans­parent, daß die Verführung nicht mehr möglich ist. Je mehr Zeichen ihre Referenz verlieren, desto ein­deutiger scheinen sie zu werden. Mit dem Geheim­nis ist auch der Charme zeremonieller Veraus­gabung verschwunden.
Alles ist klar, nichts geht mehr.
So gibt es also immer weniger literarische Mahl­zeiten, die mit zarter Hand den Geschlechtsakt vor­zeichnen, ihn matt und undeutlich a priori spiegeln, das Vorspiel verlängern. Auch werden die Speisen nur noch selten in den Akt selbst mit hinein­ge­nommen, an ihm beteiligt, so von Zeichen umstellt ist der Körper. Jede Geste zielt auf etwas Pures, Klarheit. Alle Lebensäußerungen sind derart von den Phantasmagorien des Todes überzogen, daß haltbare oder wenigstens eigenständig sich äußern­de Verbin­dungslinien zwischen Erotik und Essen immer sel­tener und schwieriger werden. Die letzten Versuche, der Inflation leicht genießbarer, ungefähr­lich-schäbi­ger Sinnenlust Einhalt zu gebieten, sind zu ver­zeichnen in der Zeit zwischen den großen Kriegen. Nachdem Bataille in einem vordergründig gesell­schaftslos erscheinenden Raum »nach der größt­möglichen Obszönität gesucht«² und Joyce den Alltag entdeckt hatte als Schlachtfeld blitzhaft auf­tauchender Obsessionen und gedanklich-assozia­tives Universum, in dem der Mensch in allen Le­bens­lagen heimgesucht wird von der über­schwem­menden Kraft des Sexus, konstatiert Musil in einer Mischung aus Ironie und Melancholie den Zerfall der erotisch-kulinarischen Lust ins Nostalgische, in an­rührende, doch niemals mehr stimulierende Remini­szenzen. Ludwig Fels schließlich beschreibt erbar­mungslos den vollständigen Verlust der Fähigkeit, Erotik und Essen, und sei´s nur in der Phantasie, zu amal­gamieren. Beide Formen von Lebensäußerung scheinen ihm verkommen zu selbstzerstörerischen und das Sterben gewaltsam in die Länge ziehenden Ersatzhandlungen.

¹George Bataille, Der heilige Eros, Frankfurt-Berlin-Wien 1984, S. 87
²George Bataille, Die Geschichte des Auges, in: Das obszöne Werk, Reinbek 1977, S. 50